Vor einigen Monaten beendete ich zum wiederholten Male das letzte Kapitel des Neuen Testaments. Ich habe es zwar schon öfter am Stück durchgelesen, aber dieses Mal hatte ich mir vorgenommen, nichts zu übereilen, sondern es wirklich auszukosten. So nahm ich mir viel Zeit zur Betrachtung der Schrift, führte Tagebuch und betete, dass der Herr die empfangenen Wahrheiten tief in mein Herz eingraben möge.
Als ich bei der Offenbarung ankam, öffnete ich dieses Buch mit leichtem inneren Zittern. Aus früherer Erfahrung war mir klar, dass ich es nicht durchlesen konnte, ohne überführt und herausgefordert zu werden, insbesondere beim Lesen der Warnungen an die sieben Gemeinden in den Kapiteln 2 und 3. Es dauerte nicht lange, bis sich meine Vorahnung bestätigte.
Die Spalten meiner Bibel zeigen deutlich, dass mir beim Lesen, Nachsinnen und Beten über diesen Kapiteln nicht nur wenige Gedanken durch den Kopf wirbelten. Doch ein bestimmtes Thema hält meine Seele auch jetzt, noch Monate später, unter Spannung. Ich hatte vermerkt: „Die Warnung an die Gemeinde in Ephesus ist beinah das Gegenteil der Warnung an die Gemeinde in Thyatira.“
Im Wesentlichen war eine Gemeinde stark auf Wahrheit bedacht und vernachlässigte dadurch die Liebe. Die andere konzentrierte sich auf Liebe und vernachlässigte die Wahrheit.
Ephesus wurde dafür gelobt, dass sie an der Wahrheit festhielten, keine schlechten oder falschen Lehren duldeten und in der Anfechtung ausharrten. Allerdings wurden sie dafür getadelt, dass die erste Liebe, die sie einst in ihnen brannte, erkaltet war (Offb. 2,1-7). Gott erteilte ihnen eine ernste Warnung, Buße zu tun und zu dieser Liebe zurückzukehren.
Die Gemeinde in Thyatira hingegen wurde für ihre stets beständige und tätige Liebe gelobt sowie für ihre wachsende Treue und ihren Dienst an den Mitmenschen. Allerdings wurde sie dafür getadelt, dass sie die Augen vor bestimmten Sünden verschloss, begangen von solchen, die vorgaben, geistliche Führer zu sein, aber in Wirklichkeit andere verführten (Offb. 2,18-28).
Die Warnungen an diese Gemeinden zeigen, dass die Vernachlässigung von Liebe und von Wahrheit gleichermaßen ungeheuerlich in Gottes Augen ist.
Bis heute sehen wir in verschiedenen christlichen Kreisen die gleiche Neigung, sich entweder stark auf die Wahrheit zu stützen und die Liebe zu ignorieren, oder sich stark auf die Liebe zu stützen, während die Wahrheit kompromittiert wird. Auch ich wurde davon überführt, dass ich zeitweise zu beiden Extremen tendiere. In der Heiligen Schrift lesen wir: „Gott ist Liebe” (1. Johannes 4,8) und „Gott ist Wahrheit” (Johannes 14,6). Beide Eigenschaften sind untrennbar miteinander verbunden. Eine davon zu schmälern bedeutet letztlich, beide herabzusetzen. Aber um treue Zeugen Jesu zu sein, müssen wir gegen unseren natürlichen Instinkt ankämpfen, uns der Welt anzupassen. Stattdessen müssen wir uns von Gottes innewohnendem Geist verwandeln lassen, damit wir Jesus in unserer Umgebung angemessen repräsentieren können (Röm. 12,2). Wir brauchen den Herrn, damit er uns deutlich macht, wie das aussieht, und zwar nicht nur in unseren Köpfen, sondern in den Kleinigkeiten unseres täglichen Lebens.
Drei Möglichkeiten, in Wahrheit und Liebe zu wachsen
1. Suche nicht nach Ausgleich: Suche Jesus.
Es kann verlockend sein, nach einem Gleichgewicht von Liebe und Wahrheit zu streben, wobei wir uns aber nur auf eine vermeintliche Symmetrie verlassen, die unsere Worte und Taten leiten sollen. In Wirklichkeit wissen wir gar nicht, wie wir Wahrheit und Liebe gleichermaßen in unserem Leben berücksichtigen können, wenn wir unsere Augen nicht auf Jesus geheftet lassen. Unsere eigenen Bemühungen sind begrenzt und unzureichend. So sagen es uns auch die bekannten Verse aus Sprüche 3,5-6:
Vertraue auf den HERRN von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf
deinen Verstand; erkenne Ihn auf allen deinen Wegen, so wird Er deine Pfade ebnen.
Weil Jesus sowohl Definition als auch Quelle von Liebe und Wahrheit ist, haben wir alles, was wir brauchen, um diese Tugenden zu verstehen und zu seiner Ehre auszuleben. Der Schrei unseres Herzens sollte jeden Tag lauten: „Gib mir Jesus!“ und mit dieser Herzenshaltung sollten wir ihn täglich in seinem Wort und im Gebet suchen und auch den Tag über in ständiger Gemeinschaft mit ihm verbleiben. So kann und wird er uns mehr und mehr sich selbst geben und auf diese Weise sowohl die Liebe als auch die Wahrheit gleichermaßen in uns vermehren.
2. Öffne deine Ohren.
Immer wieder sagt Jesus in den Warnungen an die Gemeinden: „Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb. 2,17; 2,29; 3,6; 3,13; 3,22).
Unsere geistlichen Ohren sollten weit offen sein für das, was gesprochen wird, und unsere Herzen sollten sich in einer ständigen Haltung der Demut und Bereitschaft zur Buße befinden. Uns muss klar sein, dass wir genauso anfällig sind, auf die gleichen Sünden hereinzufallen und genau die gleichen blinden Flecken zu entwickeln wie die damaligen Gemeinden. In unseren Herzen sollte das Echo der Worte Davids aus Psalm 139,23-24 widerhallen:
Erforsche mich, o Gott, und erkenne mein Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich es meine;
und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,
und leite mich auf dem ewigen Weg!
Gott sucht nach solchen hörenden Ohren, denn diese sind auch weit offen für eine Veränderung von innen heraus. In einem Leben, das nach solchen Ohren trachtet, werden Liebe und Wahrheit im Überfluss vorhanden sein.
3. Lebe in Hoffnung.
Am Ende jeder Anweisung an die Gemeinden steht ein Satz, beginnend mit „Wer überwindet”, gefolgt von Hoffnung bringenden Worten darüber, was diejenigen erwartet, die sich von ihrer Sünde abwenden und im Glauben ausharren (Offb. 2,7; 2,11; 2,17; 2,26; 3,5; 3,12; 3,21). Nach den eindringlichen Ermahnungen (und in Anbetracht der Verfolgung, mit der einige konfrontiert waren), bin ich mir sicher, dass in den Herzen vieler Zuhörer Zittern und Trauer herrschte. Gott gibt ihnen in seiner Gnade nicht nur Warnung, sondern auch eine Vision für die Herrlichkeit, die mit der Buße und dem Ausharren bis zum Ende kommen wird.
Gott gibt in seiner Gnade nicht nur Warnung, sondern lässt sie mit einer Vision für die Herrlichkeit zurück, die mit der Buße und dem Ausharren bis zum Ende kommen wird.
Wenn der Herr uns von unserer mangelnden Liebe überführt oder von unserer Angst, mutig für die Wahrheit einzutreten (oder irgendeine andere Sünde dieser Art), kann die Versuchung groß sein, der Entmutigung nachzugeben. Wir wissen im tiefsten Innern, dass wir uns nicht ändern können, und genau darauf will der Feind unseren Blick lenken: auf uns selbst. Aber als Christen sind wir nicht dazu berufen, uns auf unsere eigenen Fähigkeiten zu verlassen, um zu wachsen. Wir haben Gottes Geist, der uns von Sünde überführt und uns die Gnade gibt, Buße zu tun und zu überwinden. Wenn wir unsere Augen auf Jesus und sein vollendetes Werk am Kreuz richten, werden wir mit neuer Hoffnung erfüllt, dass seine Kraft auf uns ruht und „in der Schwachheit vollkommen“ wird (2. Korinther 12,9).
Weil Jesus die Sünde und den Tod überwunden hat, sind auch wir Überwinder. Ja, in der Vollendung werden wir dies erst sehen, wenn Jesus wiederkommt. Dennoch können wir heute schon leuchtende Fragmente dieser Realität erleben, wenn wir uns ihm völlig ausliefern, und dabei mehr und mehr in sein Ebenbild verwandelt werden. Wenn wir in die Dunkelheit um uns herum blicken und den Druck spüren, in unserem Kampf für die Wahrheit doch kleine Kompromisse einzugehen oder das „Warum“ (nämlich die Liebe zu Jesus) aus den Augen zu verlieren, können wir darauf vertrauen, dass er uns festhalten wird. Er wird die Seinen niemals verlassen oder aufgeben, und er rüstet uns aus, sowohl Wahrheit als auch Liebe in unserem Alltag auszuleben.